Nina Canell, Robin Watkins, Giulia Rispoli, Sally O'Reilly
Shell Reader
- Kategorie
- Kunstbücher - Fotobücher - Ausstellungskataloge
Begründung der Jury
Mehrere Tonnen Muschelstücke bedecken den Boden zwischen vier Wänden. Wer die Installation der schwedischen Bildhauerin Nina Canell betritt, erzeugt mit jedem Schritt ein Knirschen. Viele Schritte erzeugen einen rauschenden Klang.
Der »Shell Reader« ergänzt diese Installation. Schweres Papier ergibt einen mächtigen Buchblock. Allerdings – und das ist so rar wie eine Perle – zeigt der dreiseitige, breite Buchschnitt Scharen heftiger Kratzspuren. Die Blattkanten sind angefräst, während Perlmutt im inneren Buchdeckel schimmert. Diese allegorischen Merkmale von Rauheit und Glanz umhüllen den Inhalt. Er zeigt die harten Schutzhüllen der weichen Meerestiere in Nahaufnahme. Man schaut auf die gut 300 ganzseitig präsentierten Schalenfragmente, als wären es Portraits.
Tatsächlich sind es skelettierte Mollusken, ehemalige Individuen, deren selbst gebaute, gewachsene Behausung man bestaunt wie ein antikes Artefakt. Die riesige Menge von Muschelschalen in der Kunstgalerie repräsentiert die noch riesigeren Mengen, die aus dem Meer gebaggert, zermahlen und als Kalklieferung der Betonindustrie zugeführt werden. Bereits vor 2000 Jahren hatten die Römer:innen Monumentalbauten in Beton gegossen. Das Abstrakte dieses Werkstoffes nimmt das Übernatürliche der modernen Plastikstoffe vorweg.
Zurück zur Installation: Die Wände werden wie eine Bauschalung mit Sprießen gestützt. Das Publikum betritt anstatt eines Estrichs dessen Rohstoff. Fußtritte verschmelzen zur Komposition einer archaischen Trauermusik. Nina Canell geht es um »eine körperliche Verbindung – von Knochen zu Knochen«.