Vytautas V. Stanionis
Nuotraukos dokumentams / Photographs for Documents
Begründung der Jury
Der Umschlag aus staubig-blauem Karton, die beiden metallenen Heftstreifen mit Schiebesicherung, die fetten Textfragmente »dokum…, Photo…«, hinten die schnöde Graupappe – diese äußeren Merkmale signalisieren sofort: Bürokratie.
Beim Aufblättern flutschen die großen, vorne nach innen gefalzten Seiten aus leichtem, gelblichem Papier heraus. Gesichter, frontal bis unter die Brust, schauen ohne mimische Regung aus den alten Schwarzweißfotografien. Die Perforation des Filmstreifens ist noch zu erkennen, jedes Bild einer aufgeklappten Seite trägt zwei Personen. Eine Serie von Doppelportraits? Nein.
Der litauische Fotograf Vytautas Stanionis fertigte 1946 diese Passbilder an; neue, sowjetische Pässe wurden verordnet. Um Material zu sparen, stellte der Fotograf immer zwei Leute auf eine Ablichtung.
Das seltsam Unerbittliche, was dem staatlichen Konzept von persönlicher Identität, der Dokumentierung der einmaligen Verbindung von Namen und Gesicht zu eigen ist, kehrt diese Publikation und die Form dieser Publikation ans Licht: die serielle Behandlung von Menschen als anonyme Verfügungsmasse.
Durch die Falzung steht man den Gesichtern der willkürlichen Pärchen nun wieder einzeln gegenüber. Die Portraits haben zwar ihre Namen verloren, doch zurück bleibt der reine Ausdruck der Physiognomie. Kratzer und Staub in den Negativen überlagern vielsagend die Falten und Härchen der Portraitierten.
Die Beschaffenheit der Materialien, die extrem sparsame Gestaltung, die saubere Typografie des Anhangs mit den abwärts getreppten Textspalten, der Tonwertreichtum des Duplexdrucks im 75er Raster sind Mittel, um jenen Menschen hinter den Bildern den vermissten Respekt entgegenzubringen.