Preis der Stiftung Buchkunst 2023

Der mit 10.000 Euro dotierte »Preis der Stiftung Buchkunst« geht an das Buch »Shell Reader« (BOM DIA BOA TARDE BOA NOITE, Berlin).

Das von Nina Canell und Robin Watkins herausgegebene Buch begleitet eine Installation. Nicht nur die Papierauswahl ist passend zur Thematik gewählt, auch der Schnitt des Buches und viele andere Details sind auf die Ausstellung und den Inhalt abgestimmt.

Mehrere Tonnen Muschelstücke bedecken den Boden zwischen vier Wänden. Wer die Installation der schwedischen Bildhauerin Nina Canell betritt, erzeugt mit jedem Schritt ein Knirschen. Viele Schritte erzeugen einen rauschenden Klang.

Der »Shell Reader« ergänzt diese Installation. Schweres Papier ergibt einen mächtigen Buchblock. Allerdings – und das ist so rar wie eine Perle – zeigt der dreiseitige, breite Buchschnitt Scharen heftiger Kratzspuren. Die Blattkanten sind angefräst, während Perlmutt im inneren Buchdeckel schimmert. Diese allegorischen Merkmale von Rauheit und Glanz umhüllen den Inhalt. Er zeigt die harten Schutzhüllen der weichen Meerestiere in Nahaufnahme. Man schaut auf die gut 300 ganzseitig präsentierten Schalenfragmente, als wären es Portraits.

Tatsächlich sind es skelettierte Mollusken, ehemalige Individuen, deren selbst gebaute, gewachsene Behausung man bestaunt wie ein antikes Artefakt. Die riesige Menge von Muschelschalen in der Kunstgalerie repräsentiert die noch riesigeren Mengen, die aus dem Meer gebaggert, zermahlen und als Kalklieferung der Betonindustrie zugeführt werden. Bereits vor 2000 Jahren hatten die Römer:innen Monumentalbauten in Beton gegossen. Das Abstrakte dieses Werkstoffes nimmt das Übernatürliche der modernen Plastikstoffe vorweg.

»Was unsere buchherstellerische Welt buchstäblich trägt, ist der Werkstoff Papier. Das perlmuttschimmernde Vorsatzpapier empfand die Jury als eine ausgezeichnete Wahl, die Buchseiten fühlen sich an wie Textil, und die rauen Schnittkanten des Buchs lassen tatsächlich an eine Muschel denken. Die unglaublich schöne Gesamtkonzeption und harmonische Umschlaggestaltung wirkt wie eine Verlängerung der Galerie, lässt dem Besucher, der Besucherin, viel Raum zum Atmen, zum Reflektieren.«, so Sonja Pham (Mitglied der diesjährigen Jury und stellvertretende Chefredakteurin des »Grafikmagazin«) in ihrer Laudatio.

Die Preisverleihung fand in diesem Jahr wie gewohnt im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt statt: Carolin Blöink, interimistische Leitung der Stiftung Buchkunst, und Dr. Joachim Unseld, Verleger der Frankfurter Verlagsanstalt und Vorstandsvorsitzender der Stiftung, vergaben den Preis am Freitagabend (08. September 2023) in einem feierlichen Rahmen im Foyer des Museums.

Eine sechsköpfige Jury wählte das ausgezeichnete Buch aus den 25 »Schönsten Deutschen Büchern«, die die Stiftung Buchkunst im Juni bekannt gegeben hat. Die Preisverleihung bot die Gelegenheit, auch die Buchgestalter:innen, Hersteller:innen und Verleger:innen dieser 25 »Schönsten Deutschen Bücher« zu feiern. Darüber hinaus würdigte die Stiftung Buchkunst am Freitagabend die Prämierten des »Förderpreises für junge Buchgestaltung«. Die mit je 2.000 Euro dotierten Preise gingen an drei Titel, die das Medium Buch weiterdenken: Ausgezeichnet wurden Anna Wank (»Entblößen & Verdecken«), Shinichiro Shiraishi mit Enno Pötschke (»Samsara«) sowie Carlota Barberán Madruga (»Willkommen«).

24 Juror:innen waren an neun Tagen im Einsatz, um die schönsten, innovativsten und zukunftsweisendsten Buchpublikationen des Jahres zu finden. Aus insgesamt 603 Titeln wurden die 25 »Schönsten Deutschen Bücher« und der »Preis der Stiftung Buchkunst« ausgewählt, aus 164 Einsendungen gingen die drei Gewinnertitel für die »Förderpreise für junge Buchgestaltung« hervor.

Dr. Joachim Unseld (Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Buchkunst) ruft ins Gedächtnis:

»Papier hat eine besondere Qualität und Haptik. Druck auf Papier überdauert nicht nur Jahrhunderte, die stabile Materialität des Papiers bietet eine Projektionsfläche für eigene Gedanken.« und fügt hinzu: »Es geht beim schönen Buch um unsere Fähigkeiten allgemein: um die Erziehung der Gefühle, unser Einfühlungsvermögen in menschliche Beweggründe. Der Orientierung in einer geistigen Architektur. Dem Abmessen der Zeit, derer es bedarf, um eine Geschichte zu erobern, der Möglichkeit, einen Schritt zurückzumachen. Und es geht um die Bildung einer Fantasie, die nicht durch Algorithmen immer nur auf die eigenen Neigungen zurückgeführt wird, sondern nach außen gerichtet ist. Lesen wir also auf Papier!«

Zudem wurde der festliche Anlass dazu genutzt, den jährlich erscheinenden Katalog der »Schönsten Deutschen Bücher 2023« erstmalig zu präsentieren, den das Team von PARAT.cc (parat.cc) aus München gestaltet und umgesetzt hat. Vorbestellung in der lokalen Lieblingsbuchhandlung via ISBN 978-3-9822108-2-7.

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Laudatio von Sonja Pham:

Welche Spuren hinterlassen wir als Menschen? Eine zentrale Frage unseres Daseins.

Vor wenigen Wochen hat ein Gremium von Wissenschaftler:innen ganz offiziell eine neue Epoche ausgerufen. Das Anthropozän, von dem man länger schon informell sprach, ist in die Zeitgeschichte eingegangen. Basierend sind die Erkenntnisse auf 12 Bohrproben, am Ende entschied man sich für die Probe aus dem kleinen kanadischen Lake Crawford als globalen Referenzpunkt, als einzigartiges Erdarchiv. 

Im Wesentlichen wurde anerkannt und anhand verschiedener geologischer Parameter festgestellt, dass der Mensch sich unwiederbringlich ins Gestein, in die Erdoberfläche eingeschrieben hat. Diese neue Epoche bestätigt, dass eine Kausalität besteht zwischen dem Einwirken des Menschen auf die Ressourcen des Planeten und den Spuren, die das in den Gesteinsschichten hinterlässt. Im Wesentlichen gibt es vier Marker für dieses neue, vom Menschen geprägte Zeitalter: Mikroplastik, das im Sediment als Technofossil übrig bleiben kann, CO2, das sich in der Luft sammelt, Stickstoff aus Kunstdünger und Gülle, und Plutonium, also strahlende Zerfallsprodukte aus Bombentests, die global nachweisbar sind. Letzteres wird als geochemisches Signal, als Zeitstempel für die Aktivitäten des Menschen betrachtet, daher der Vorschlag, das Anthropozän auf 1950 zu datieren.

Wir leben also in einem Zeitalter, in dem die Menschheit und ihr Größenwahn eine zentrale Rolle in der Geologie und Ökologie einnimmt. Der Mensch formt kraft seines Wirkens den Planeten. Interessant an dieser Entscheidung ist, dass hierfür über zehn Jahre eine Arbeitsgruppe zusammenkam, die einerseits aus Wissenschaftler:innen vom Max-Planck-Institut bestand, aber aus Aktivist:innen und Kunstschaffenden.
Warum diese Zusammensetzung?

Der Philosoph und Kulturwissenschaftler Bernd Scherer, der das Haus der Kulturen der Welt leitete und für die Arbeitsgruppe zuständig war, betont, dass sich bei der Festlegung einer neuen Epoche die Einflüsse der Kultur mit auswirken müssen. Wir alle hinterlassen Spuren, und das gar nicht nur in Bezug auf die Sedimente. Unsere Kulturgeschichte basiert weitgehend auf dem Bedürfnis, in Erinnerung zu bleiben mit unserem Wirken, uns einzuschreiben in die Geschichte, die weit älter ist als die Menschheit. Ihr zu begegnen, in ihr übrig zu bleiben. Für die Kunst beantwortete die deutsch-polnische Bildhauerin Alicja Kwade die Frage, weshalb sie so wertvoll für uns ist: »Kunst ist wie eine kollektive Spur des menschlichen Daseins, die wir hinterlassen, weil das nicht gekoppelt ist an eine Notwendigkeit des täglichen Lebens und drüber hinaus geht und schafft, sich der Endlichkeit zu widersetzen. Also sind wir es am Ende.«

Die Frage lautet also auch, welche Spuren die Geschichte der Welt in uns hinterlässt?

Wenn ich hier in den Raum blicke und keiner trägt FFP2-Maske, so scheint es, die Coronazeit sei weit entfernt. Und doch hat diese Mikro-Epoche, wenn man so will, ihre Spuren in unserer Branche, in unserer Arbeitswelt, in der Familie und im eigenen Sicherheitsempfinden hinterlassen.

In unserer Jury betrachteten wir die 25 Schönsten Bücher also auch auf Basis dieser neuen Begrifflichkeit – was es bedeutet, verweilen zu müssen. Was es bedeutet, auf einmal nicht mehr sicher zu sein, diesem ominösen Virus quasi schutzlos ausgeliefert. Viele von uns haben Verluste erlitten – liebe Menschen, wertvolle Zeit. Wem kamen die letzten drei Jahre nicht als ein großer zeitlicher Kaugummi vor, der alles verklebt und irgendwie fad schmeckte, nicht zu greifen, schwer einzuordnen? Nicht berühren zu dürfen, fällt uns schwer. Uns als haptisch veranlagten Buchmenschen vielleicht noch ein bisschen mehr. Abstand halten zu müssen zur Außenwelt, zu den Dingen und Menschen, die wir gern anfassen, auf ihnen Spuren hinterlassen möchten, blieben uns verwehrt. Vielleicht fragten wir uns neu:

Wer sind wir in der Welt? Was ist die Welt in uns?

Als Journalistin, als von Neugier getriebene, die immer alles begreifen, verstehen will und nicht zuletzt als Mutter einer kleinen Tochter, die auch im Anfassen ihre Welt begreift, finde ich den Gedanken sehr reizvoll, dem Berühren viel Raum und Zeit zu schenken. Jetzt vielleicht umso mehr. Es macht mich sehr, sehr froh, in genau dieser Epoche an diesem Ort zu sein, und den Preis der Stiftung Buchkunst einem Verlag zu überreichen, dessen Werk zutiefst berührt – angreift, Gänsehaut erzeugt. Mit Sanftheit und Kraft. »Etwas, das so weich ist wie die Muschel und in einer Welt leben, die so wenig weichtierfreundlich ist wie das Meer, wird jeden erdenklichen Schutz brauchen, den es aufbringen kann«, heißt es im Text von Sally O’Reilly im Buch »Shell Reader«, das wir heute auszeichnen möchten.

Umgesetzt wurde es vom Berliner Kunstbuchverlag BOM DIA BOA TARDE BOA NOITE. Das Team um Manuel Raeder und Elena Malzew sowie der Grafiker Robin Watkins haben mit »Shell Reader« unglaubliche Arbeit geleistet, Nina Canells künstlerischer Praxis einen Raum zu geben. Und vor allem: eine Langsamkeit, fast schon schwerelose Zeitlosigkeit, die sie braucht. Denn sie dreht sich nicht um das fertige Kunstwerk, sie stellt Prozesse und Synergien in den Vordergrund. »Shell Reader« basiert auf einer experimentellen Installation, die sich mit der materiellen Vitalität von Calcit auseinandersetzt. Die begehbare Muschelskulptur von Nina Canell lässt Besucher:innen die biomineralischen Formen im Laufe der Ausstellung nach und nach zerquetschen, über die gebrochenen Körper laufen. Sie lässt darüber nachsinnen, wer oder was uns eigentlich trägt in der Welt. Was unsere buchherstellerische Welt buchstäblich trägt, ist der Werkstoff Papier.

Das perlmuttschimmernde Vorsatzpapier empfand die Jury als eine ausgezeichnete Wahl, die Buchseiten fühlen sich an wie Textil, und die rauen Schnittkanten des Buchs lassen tatsächlich an eine Muschel denken. Die unglaublich schöne Gesamtkonzeption und harmonische Umschlaggestaltung wirkt wie eine Verlängerung der Galerie, lässt dem Besucher, der Besucherin, viel Raum zum Atmen, zum Reflektieren. Der verantwortungsvolle und gleichzeitig qualitätsbewusste Umgang mit Papieren fügt sich harmonisch ein in die Gestaltung, namentlich passend wurde das »Sirio Pearl Oyster Shell« von Fedrigoni in 125 g/m² gewählt, durchgefärbt mit lichtechten Pigmenten. Bei den Buchseiten wurde in verschiedenen Grammaturen mit dem »Materica Quartz« und dem »Arena Rough Natural«, ebenfalls aus dem Hause Fedrigoni, gearbeitet. Alle Papiere, das finde ich hier wichtig zu erwähnen, sind aus umweltfreundlichem ECF-Zellstoff und FSC zertifiziert, die Rohstoffe stammen also aus nachhaltiger Waldwirtschaft.

Die interdisziplinäre Berlinische Galerie in Kreuzberg, die »Muscle Memory« zeigte und »Shell Reader« mitverantwortete, versteht ihren Sammlungsauftrag nach eigenen Angaben gleichermaßen als Fokus und Ansporn, bei den Präsentationen der Künstler:innen treten oft unerwartete Verbindungslinien zutage. Explizit bezeichnet sich das Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur als »offenen Ort des Sehens, der Entdeckungen und der Kommunikation«. Mit einem gläsernen Architekturkonzept lässt es dem Besucher, der Besucherin, viel Raum zum Atmen, zum Reflektieren – wie auch das Buch zur Ausstellung »Muscle Memory«. Seite um Seite zeigt Shell Reader gebrochene Muschelstücke, Fragmente unserer zerbrechlichen Welt. Jede Seite ein Riss, ein Bruch, ein Splitter – aber eben auch die Geschichte eines schützenswerten, verletzlichen Weichtiers. Nachweislich leben diese Weichtiere bereits seit dem Beginn der Erdfrühzeit, also seit 570 Millionen Jahren.

Und dieses Material mit seinem gigantischen Erfahrungsschatz, das zerkleinerte Calcit aus Meeresmollusken ist heute – fast schon banal – ein wesentlicher Bestandteil von Beton, einem wichtigen Bestandteil unserer gebauten Umwelt, dem Anthropozän. Immer wieder taucht im Buch der Begriff »Hardscape« auf, ein architektonischer Ausdruck aus der Garten- und Landschaftsgestaltung, der feste Materialien, Granulate für Einfahrten oder Gartenwege bezeichnet. Insofern ist ihre Installation und das Buch Shell Reader auch weniger eine Begegnung mit der Natur als vielmehr mit der gewaltsamen, menschlichen Extraktion aus ihr.

»Die Arbeit zielt darauf, ein haptisches Verständnis dafür zu erschließen, wie eng einige unserer allgegenwärtigen Baustoffe wie Beton, Sand oder sogar Glas mit der Biomineralisation zusammenhängen«, sagt Nina Canell. Es ist ihr ein Anliegen, mit ihrer Arbeit das Material aus der Welt der Gleichgültigkeit zu lösen, indem sie körperliche Verbindungen herstellt. Muscle Memory, also das Muskelgedächtnis bezeichnet etwas, das wir Menschen wissen, ohne es zu wissen. Gewissermaßen eine körperliche Form des Erinnerns, die entsteht, wenn wir einen beliebigen Muskel oft trainieren. Der Zugang wird leichter, je mehr man trainiert.

»Shell Reader« kann als eine Einladung gelesen werden, sich im wahrsten Sinne des Wortes Zugang zu verschaffen, dieser haptischen, olfaktorischen, visuellen und nicht zuletzt akustischen Spur zu folgen, die das Buch einem legt. Sich der sprichwörtlichen Belastung bewusst zu werden, die wir Menschen für unsere Umwelt sind. Aber auch Raum in ihr zu finden. Zeit in ihr zu verbringen. Dialoge zu halten mit Vertreter:innen der Kunst gleichwohl wie der Wissenschaft.

Meine herzliche Gratulation an Manuel Raeder, Elena Malzew und Robin Watkins, an die Berlinische Galerie und natürlich auch an Nina Canell zu diesem wunderschönen Buch, diesem Kunstwerk, dem es gelingt, die komplexen Dimensionen in diesem Buch zu kumulieren. Sie in unserer Zeit, in unserem Anthropozän zu verankern.

Und apropos Zeit, zuletzt möchte ich hier noch kurz Bezug nehmen auf den Titel eures Kunstbuchverlags BOM DIA BOA TARDE BOA NOITE auf eurer Website erklärt ihr, dass der portugiesische Titel, übersetzt »Guten Tag, guten Nachmittag, gute Nacht«, die Idee vermittelt, dass Bücher ein fester Bestandteil unseres Alltags sein sollten. Und unabhängig von der Tageszeit – oder vielleicht sogar Epoche – Spuren hinterlassen.


Weitere Infos und Bildmaterial zum Siegerbuch »Shell Reader« finden Sie HIER.